Es war Ende der achtziger Jahre im vorigen Jahrhundert, als ich als Geschäftsmann meine erste Reise nach Kairo durchführte. Ich erinnere mich an eine schon damals sehr turbulente, lebhafte und laute Stadt. Menschen, Autos, Restaurants, Läden. Und dann zur Gebetszeit das Ertönen von hunderten Moscheen. Die tonversetzten und sich überlagernden Gebetsrufe aller Moscheen von Kairo machten für Minuten ein Ende der lauten Geräusche der Stadt. Stellen Sie sich 1000 Klavierspieler vor, die zeitgleich das gleiche Stück spielen, nur sind die Klaviere um je einen Halbton verstimmt. So ähnlich klang Kairo. Und mit dieser gewaltigen heiligen Musik der vielen weitverstreuten Moscheen, veränderte sich das Stadtbild augenblicklich. Sonne und Hitze, Gerüche vom Schweiß der Menschen und der vielen Straßenrestaurants und der Gestank der Abgase. All das erschien augenblicklich in einem anderen Licht. Eine unbeschreibliche Atmosphäre. Wie wenn die Stadt augenblicklich zur Ruhe kommen möchte, was ihr aber nicht gelang.
Was in Kairo oder überhaupt in der Islamischen Welt die Moscheen sind, das sind in Deutschland die Kirchen. Auch deren Kirchenglocken überlagern sich in den Städten, zu den Uhrzeiten, wo mehrere Kirchen das Glockenwerk gleichzeitig erklingen lassen.
Seit über 30 Jahren bin ich meiner Süddeutschen Heimat ferngeblieben. Ein Auswanderer auf Zeit. Jetzt, in der Rentenzeit, habe ich immer mehr die Gelegenheit, öfters und auch länger nach Deutschland, in die Gegend meiner Eltern und Kindheit, aber auch meiner Kinder und Kindeskinder zu reisen. Bei uns in Heilbronn im Südviertel läuten morgens um 7.00 Uhr und abends um 19.00 Uhr die Glocken der Südkirche. Ich muss dann stehen bleiben. Ich muss die Arbeit niederlegen, das Denken beruhigen. Dem schönen Klang zuhören. Die Schwingungen in sich eintreten lassen. Eventuell das Fenster aufmachen, noch mehr die Töne hereinlassen. Mitschwingen. Über das Ohr erreichen die Glockentöne sofort die Seele. Ich vernehme die Glockenmusik als ein Rufen. „Lass dich fallen, lege deine Sorgen und Verpflichtungen in meine Hände, mein Wille geschehe jetzt und immer, für alle Zeiten“.
Kirchenglocken können natürlich auch Warnung sein in Katastrophenzeiten. Oder Friedensbote in der Silvesternacht um 00.00 Uhr.
„…Und dies sei fortan ihr Beruf, wozu der Meister sie erschuf!
Hoch überm niederen Erdenleben soll sie in blauem Himmelszelt die Nachbarin des Donners schweben und grenzen an die Sternenwelt.
Soll eine Stimme sein von oben, wie der Gestirne helle Schar, die ihren Schöpfer wandelnd loben und führen das bekränzte Jahr.
Nur ewigen und ernsten Dingen sei ihr metallener Mund geweiht, und stündlich mit den schnellen Schwingen berühr im Fluge sie die Zeit.
Dem Schicksal leihe sie die Zunge, selbst herzlos, ohne Mitgefühl, begleitet sie mit ihrem Schwunge des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang im Ohr vergehet, der mächtig tönend ihr entschallt, so lehre sie, das nichts bestehet, dass alles Irdische verhallt…“
(Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke, Auszug)
Der Klang der Glocken ist ordnend. Er ist unmittelbar. Wir fühlen intuitiv, dass es einen Bereich jenseits des Denkens gibt. Unsere Schutzengel fühlen sich wohl in dieser Klangharmonie. Sie verstecken sich zwar hinter den Tönen, sind aber so nahe bei uns. Berühren unsere Schultern. Tragen Last von uns weg. Flüstern uns in Ohr: Lass los!
Wir sind so voll, von Gedanken, Sorgen, Aufgaben, Freuden, Ideen, Trauer, unser Gehirn ist überflutet und überreizt im Alltag, dass wir selbst das Weinen bei traurigen Anlässen verlernt haben. Wir haben uns voll unter Kontrolle, in einer mehr und mehr abgestumpften Welt. Ein Glockenschlag kann das Tor zur Seele öffnen. Weinen, eventuell nur innerlich, ja wie erleichternd kann das sein. Wie heilsam. Die ausklingende Glocke, manchmal nur der letzte Ton, erlaubt Hineinsinken und Loslassen. Wenn wir überhaupt loslassen können.
Die „Grenzen von Glasgow“ (FAZ Berichte November 2021 über die Welt – Klimakonferenz in Glasgow) offenbaren den Lesern die dramatische Situation, in der sich unsere Erde befindet. Es geht ums Ganze. Es geht ums Überleben unserer zukünftigen Generationen hier in unserem Breitenkreis, und es geht jetzt schon ums Überleben der Menschen in weiter südlich gelegenen Ländern in Asien, Afrika, Amerika. Fast 200 Staaten haben sich in der Klimakonferenz in Glasgow darauf abgestimmt, wie eine globale Temperaturerhöhung über 1,5 Grad bedingt durch Kohlendioxid und anderer schädlicher Gase verhindert werden kann. Ziele sind notwendig, um die Richtung nicht zu verfehlen. Ziele sind notwendig, um die notwendigen Aktionen festlegen zu können. Die Tageszeitungen sind in diesen Novemberwochen voll von Informationen über diese wichtige Konferenz in Glasgow. Blättern wir ein paar Seiten weiter, finden wir ganzseitige farbige Großanzeigen über die neuesten, größten, kräftigsten, schnellsten Limousinen aus edlen Automobilmanufakturen. Für Märkte mit noch nicht ausreichendem Klimabewusstsein.
Machen wir uns in Deutschland oder anderen Ländern nicht mitschuldig? Wie können wir ruhig schlafen, da doch die Abholzung der Urwälder viel zu tun hat mit unserem Hunger und Durst nach landwirtschaftlichen Rohprodukten. Sei es Soja, sei es Mais, sei es Palmöl usw.
Die Zukunft der Erde können wir und nachfolgende zukünftige Generationen nur dann erleben, wenn wir durch bessere Technologien bei gleichem oder sogar wachsendem Lebensstandard die Umwelt weniger belasten und die Altlasten Schritt für Schritt beseitigen.
Andererseits: Die Zukunft der Erde können wir und nachfolgende zukünftige Generationen nur dann erleben, indem wir ganz einfach weniger die Erde ausbeuten, weniger verbrauchen und nachhaltiger produzieren und zwar nur so, wie das Klimagleichgewicht es zulässt. Technologien werden uns helfen, noch für eine bestimmte Zeit mehr Wohlstand durch Wachstum erreichen zu können. Das Bevölkerungswachstum wird uns aber die Grenzen aufzeigen und das Wohlstandswachstum mittelfristig begrenzen müssen.
Die Klimakonferenz war alles in allem eine gewaltige Erinnerung, dass wir die Grenzen unseres Wachstums bereits überschritten haben. 1,5 Grad Temperaturerhöhung bedeuten für viele Staaten und den darin lebenden Menschen jetzt schon Katastrophen, Ernteeinbrüche, Vertreibung, Krankheit, Tod.
Zukünftige Wachstumserwartungen reduzieren oder sogar ganz loslassen. Wer fängt an?
Loslassen können ist eine Eigenschaft, mit der wir als Menschen immer wieder konfrontiert werden. Wie oft schleppen wir Sorgen und Probleme mit uns herum, wie oft belasten uns Übergewicht und zivilisationsbedingte Krankheiten. Das Heilfasten in Verbindung mit Meditation und dem Wandern im Wald kann hier Wunder bewirken. Sei es beim Auflösen von mentalen Verkrampfungen (Sorgen), sei es das Heilen von zivilisationsbedingten Krankheiten durch Gewichtsabnahme und das Wiedereinordnen unserer aus den Fugen geratenen physiologischen Prozesse.
Loslassen können ist dann eine große menschliche Herausforderung, wenn unmittelbare menschliche Kernfragen aufkommen. Wenn die Ganzheit Körper, Seele, Geist berührt werden. Haben wir den richtigen Beruf erlernt? Diese Frage wird dann lebensentscheidend, wenn wir irgendwann im Leben tragisch erkennen, dass mein Beruf und meine Berufung nicht zusammenpassen. Sind wir mit dem richtigen Partner zusammen? Haben wir ein Bündnis auf Lebenszeit mit ihm oder ihr abgeschlossen und erkennen nach Jahren, dass aus einem anfangs engen und gemeinsamen Weg zwei auseinanderdriftende Wege werden? Loslassen wollen? Der oder die Loslassende möge sich vor dem Akt des Ausstiegs aus der Partnerschaft oder aus dem Ehebund des ungeheuren Leids im Klaren sein, dass bei dem oder der Zurückbleibenden hervorgerufen wird und die Entscheidung, so es noch geht, durchdenken, oder ruhen lassen. Das ist speziell dann wichtig, wenn der Lebensbund durch äußere Kräfte in Unordnung gebracht wurde. Sollte allerdings ein inneres Zerwürfnis derart unheilbar für beide Beteiligte geworden sein, mag eine Entscheidung zum Loslassen richtig sein. Loslassen sollte aber immer voraussetzen, alle Ideen, Vorhaben und Vorstellungen, wie sie im Leben aufkommen, auf ihre Richtigkeit und Nachhaltigkeit und das eventuell entstehende Leid hin zu überprüfen. Aus der Buddhistischen Meditation wissen wir allerdings, dass unsere Gedanken, ja sogar unser Verstand, nicht absolut sind. So manches Mal kann uns die innere Stimme einen falschen Weg weisen. Wo ist der Maßstab? Wer hat die Weisheitskompetenz, um uns in entscheidenden Lebensfragen richtig zu beraten?
Kürzlich habe ich ein Buch von Eckhart Tolle als Geschenk bekommen mit dem Titel „Lebe im jetzt“. Eckhart Tolle beschreibt hier sehr einfach, dass „die Freiheit mit der Erkenntnis beginnt, dass du nicht der Denker bist. In dem Augenblick, in dem du den Denker zu beobachten beginnst, wird eine höhere Bewusstseinsebene aktiviert. Du erkennst, dass es einen unendlich großen Intelligenzbereich jenseits des Denkens gibt, von dem das Denken nur ein winziger Bruchteil ist. Du erkennst ferner, dass alles, was wirklich von Bedeutung ist – Schönheit, Liebe, Kreativität, Freude, innerer Frieden – seinen Ursprung jenseits des Verstandes hat. Du beginnst zu erwachen.“
Ich habe in meinen Lebensjahren gelernt, dass es nicht immer gut war, schnell zu entscheiden („Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“). Heute lasse ich mir Zeit oder entscheide gar nicht. Die Situation wird eine Lösung entwickeln. Manchmal gibt es auch gar keine Lösung. Und je mehr ich mich von der Anforderung, unbedingt eine Lösung zu finden, entfernt habe, geschieht ein Loslassen von dem Problem durch achtsames warten können. Stille und Heilung sind eingekehrt. Dinge können sich auch ohne unser dazutun regeln, speziell wenn sie ganz wichtig sind.
„Wer ganz frei geworden ist von sich selbst, wer nichts von dem sucht, was ihm zusteht, sei es groß oder klein,
wer weder unter sich noch über sich, weder neben sich noch auf sich selbst sieht, wer weder Gut noch Ehre, weder Annehmlichkeiten noch Lust,
weder Nutzen noch Innigkeit, weder Heiligkeit noch Lohn, ja nicht einmal das Himmelreich sucht, wer sich von allem Eigenen frei gemacht hat,
der gibt Gott die Ehre, der ehrt ihn wahrhaftig und gibt Gott, was sein ist.“
(Meister Eckhart, EİNS WERDEN)
Und dann möchte ich Dogen Zenji nicht vergessen, den großen japanischen Zen Meister aus dem 13. Jahrhundert:
„Lass alle Objekte des Geistes los, nimm eine Ruhepause von all den Sorgen, denke nicht an Gut oder Böse!“
Zum ausklingenden Jahr 2021 möchte ich mich bei Ihnen bedanken für Ihr Interesse an meinen Artikeln und der Arbeit der Fastenakademie Bauer. Gerne wünsche ich Ihnen und dem Kreis Ihrer Lieben Frohe Weihnachten und ein gesundes und zufriedenes Neues Jahr 2022.
Otto Bauer, Istanbul/Heilbronn im November 2021
(Unternehmensberater und Fastenleiter)